Titelthema
Kita-Qualität mit Kindern aushandeln
Warum die Erfassung von Kinderperspektiven ein Beitrag zur Demokratisierung ist, erläutert Petra Wagner.
Bisherige Untersuchungen zu »Qualität aus Kindersicht« zeigen eindrücklich, wie kompetent und bereitwillig die befragten Kinder Auskunft darüber geben, was ihnen in der Kita wichtig ist: Sie wollen gesehen werden mit dem, wer sie sind und was sie können und wissen, sie wollen Zugehörigkeit und Gemeinschaft, sie wollen ungestört mit Freund*innen sein, sie wollen erkunden und explorieren, sie wollen mitbestimmen, sie wollen lachen und Quatsch machen, sie wollen, dass auch ihre Familien in der Kita willkommen sind (Nentwig-Gesemann et al. 2021).
Ihre Anliegen sind einfach. Sie entsprechen grundlegenden Ansprüchen in den UN-Konventionen zu den Kinderund Menschenrechten. Sie führen die Agenda aus Bildungsprogrammen und Qualitätsverfahren aus: Partizipation, Inklusion, Orientierung an der Lebenswelt von Kindern und Familien, Wertschätzung von Vielfalt, Demokratiebildung, soziale Gerechtigkeit (vgl. Wolter 2021, Tr᾽ân 2023). Sie widerlegen die Befürchtungen, Kinder könnten Kita-Qualität an unrealistischen und »überzogenen« Forderungen festmachen. Die befragten Kinder wollen ganz einfach dazugehören, wertgeschätzt sein, sich kompetent erleben, über sich selbst bestimmen und mitbestimmen - und dies soll in einer guten Kita möglich sein, in den ganz konkreten Momenten und Routinen des Alltags.
Ein Kita-Team stellt fest, dass vieles im Alltag der Kita fremdbestimmt ist, vor allem die Verfügung über zeitliche Abläufe und über die Räume. Sie stellen den Kindern frei, den Ablauf eines Tages selbst zu bestimmen. Zunächst zögern die Kinder, sie wirken überrascht oder unschlüssig über dieses Angebot. Schließlich eine Idee, die viele Kinder gut finden: »Wir wollen draußen frühstücken!« Die Kinder gehen mit ihren Vespertaschen in den Garten, verteilen sich in kleinen Grüppchen und frühstücken - auf dem Gehweg, im Gebüsch, unter einem Baum … Es geht entspannt und vergnügt zu. Die Fachkräfte sind verblüfft und fast etwas beschämt über die Bescheidenheit des Wunsches. Nein, die Kinder zetteln keine Revolution an, sie wollen einfach im Garten frühstücken! Die Fachkräfte erkennen, wie wichtig den Kindern ist, selbst entscheiden zu können, mit wem sie wann und wo essen. Und wie wichtig ihnen der Aufenthalt im Garten ist. In der Folge nutzen sie bewusst den Garten als erweiterten Gruppenraum. Mit Betroffenheit vermuten die Fachkräfte, dass die Kinder von sich aus die Forderung wahrscheinlich nicht gestellt hätten.
Kinder zeigen sich als hierarchiekompetent, wenn sie institutionelle Abläufe als nicht veränderbar wahrnehmen und sich anpassen. In der Regel lernen sie rasch, dass Kindern eher wenig Mitbestimmung über Grundlegendes wie die zeitlichen und räumlichen Ordnungen zukommt. Sie lernen, dass offener Widerstand zwecklos ist, sie sich allenfalls punktuell entziehen oder auf der »Hinterbühne« der Einrichtung die Regeln umgehen können. Eine einmalige Aufforderung an die Kinder, den Ablauf mitzubestimmen, reicht nicht aus. Um glaubhaft zu machen, dass auch die Abläufe eine Angelegenheit der Kinder sind, über die sie mitzubestimmen haben, brauchen Kinder explizite Aufforderungen und verlässlich wiederkehrende Formate für ihre Meinungsäußerungen und für gemeinsame Entscheidungen. Dafür zu sorgen ist die Aufgabe der Erwachsenen.
Mehrperspektivität statt Standardisierung im Qualitätsdiskurs
Lange Zeit spielten die Perspektiven von Kindern keine Rolle bei der Qualitätsentwicklung. Dies hatte zum einen mit dem Qualitätsverständnis zu tun: Basierend auf Managementtheorien ging man seit den 90er Jahren zunächst davon aus, Qualität werde von Expert*innen definiert, die »universelle«, »objektive« und »eindeutige« Normen festlegten, woran die Kita-Praxis gemessen werde. In diesem Verständnis braucht es keine weiteren Perspektiven, weder die der Kinder noch die der Fachkräfte oder der Familien.
Mit dem Situationsansatz war dies nicht zu vereinbaren: Christa Preissing und andere (2009) bestanden darauf, dass Qualität zu bestimmen niemals werteneutral sei und in dialogischer Aushandlung zu erfolgen habe 1. Damit begann eine Kontroverse, die bis heute anhält. Allerdings dominiert die Befürwortung von Kontrolle, Standardisierung, Vergleichbarkeit und Effektivität den Qualitätsdiskurs.
Der britische Bildungsforscher Peter Moss stellt dem unermüdlich seine Vorstellung entgegen, dass »Evaluation als demokratischer Prozess der Interpretation« ein ko-konstruktiver Prozess sein müsse, in dem das Konstruieren von Sinn und Bedeutung gemeinsam mit anderen erfolge, um die eigene Praxis zu verstehen, zu bewerten und sich mit anderen auf Bewertungsmaßstäbe zu einigen (vgl. Moss 2016). Er argumentiert gegen ein technizistisches Qualitätsverständnis und setzt dem sein Verständnis von frühkindlicher Bildung als demokratische, experimentelle und ethische Praxis entgegen, in die selbstverständlich die Kinder ihre Perspektiven einbringen. Die Forscher*innengruppe um Iris NentwigGesemann schließt sich diesem Verständnis an (Nentwig-Gesemann et al. 2017). Ihr Kinderperspektivenansatz ist mehrperspektivisch angelegt. Er bezieht Kinder als gleichberechtigte Akteur*innen im Alltag und bei der Qualitätsentwicklung ein und liefert Fachkräften methodische Werkzeuge für die »Praxis des Forschens mit Kindern« (Nentwig-Gesemann et al. 2021, S. 13).
Kinderperspektiven und Erwachsenenmacht
Die Ausblendung der Perspektiven von Kindern bei der Qualitätsentwicklung ist auch dem ungleichen Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern geschuldet: Im häufig unbewussten Ausspielen ihrer Machtvorteile agieren Erwachsene adultistisch, das heißt, sie missbrauchen ihre Macht, um Kinder zu maßregeln, ihre Ansprüche und Bedürfnisse gering zu schätzen, auch: sie zu demütigen und zu misshandeln.
Studien haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass übergriffiges Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern auch in Kitas und Schulen vorkommt. Annedore Prengels Analysen von Interaktionen zwischen Lehrkräften und Kindern in Grundschulen (2019) ergaben, dass etwa ein Viertel der Interaktionen verletzend waren. In der BiKA-Studie ergab eine Untersuchung von Alltagssituationen in Krippen ein großes Maß von direktiven und negierenden, nicht angemessenen Handlungsanweisungen, auch Bewegungseinschränkungen und unangemessenen Körperkontakt (vgl. Hildebrandt et al. 2022).
Kinder sind gegenüber Erwachsenen unterlegen. Sie haben wenig Chancen, sich zur Wehr zu setzen. Ganz unmöglich wird es, wenn Erwachsene untereinander den Machtmissbrauch decken und für eine Mauer des Stillschweigens sorgen, gerade in Bildungseinrichtungen, die angeblich zum Wohle der Kinder geführt werden.
Adultistische Routinen und Glaubenssätze sind meistens verinnerlicht. Um sich ihrer bewusst zu werden, brauchen Erwachsene eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Praxis und auch mit ihren Begründungen, denn diese enthalten häufig Rechtfertigungen, mit denen man sein Handeln »schönredet«. Das Repertoire an adultistischen Rechtfertigungen ist groß und weit verbreitet: »Dafür sind sie zu klein«, »Das verstehen sie nicht«, »Sie brauchen klare Regeln, sonst gibt es Chaos« et cetera.
Es sind Aussagen, die dem entgegenstehen, was die befragten Kinder als gute Qualität ihrer Kita identifizierten: wertgeschätzt sein, sich kompetent erleben, über sich selbst bestimmen und mitbestimmen … Kinder äußern sich interessiert am gemeinsamen Konstruieren von Sinn und Bedeutung, von dem Peter Moss spricht. Sie fordern nicht: »Kinder an die Macht!« Sie fordern Freiräume und Mitbestimmung in der Kita. Und auch: Erwachsene, die sie verlässlich vor Gewalt und Missbrauch schützen, die ihnen in Krisen und bei Unsicherheiten beistehen, die ihnen glauben und die da sind, wenn Kinder sie brauchen.
Die Macht mit Kindern zu teilen, bedeutet für Annedore Prengel, dass Erwachsene ihre Macht nicht mehr für »Missachtungs-, Verletzungs- und Degradierungspraktiken« nutzen dürfen. Für Pädagog*innen bedeutet es nicht, sich aus der pädagogischen Verantwortung zurückzuziehen. Sie sollten Macht an Kinder abgeben und sie mit ihnen zusammen verantwortlich ausüben, im Sinne einer demokratischen Erziehung, in der Freiheit, Gleichheit und Solidarität leitende Werte sind (vgl. Prengel 2016).
Es liegt auf der Hand, dass man damit nie »fertig« ist. Im Prozess des Aushandelns sind die Werte erlebbar, zeigt sich die Qualität der Kita-Praxis. Zudem ist kein Kind wie das andere. Sie unterscheiden sich nach ihren Ausgangspositionen und Weltzugängen. Auch wenn Kinder gegenüber Erwachsenen das Risiko teilen, abgewertet und herabgewürdigt zu werden, weil sie Kinder sind, so gibt es doch nicht »die« Kinderperspektive. Es sind immer Kinderperspektiven im Plural.
Freiräume ausweiten und Schutz zusichern
In den Untersuchungen zu »Kita-Qualität aus Kindersicht« stellten die Forschenden überrascht fest, dass die Kinder nur selten auf die Fachkräfte und ihre Bedeutung für sie zu sprechen kamen. Sie erzählten meistens von anderen Kindern. Wenn sie über Fachkräfte sprachen, dann im Zusammenhang mit Beschwerden über sie. Eine gute Interaktion mit Fachkräften hingegen, mit denen sie emotional verbunden waren, war eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erwähnung bedurfte. Die Qualitätsdimension heißt: Sich in der Beziehung zu den Fachkräften sicher, wertgeschätzt, ermutigt und beschützt fühlen. »Ich mag meine*n Erzieher*in und fühle mich wohl und beschützt mit ihm*ihr.« (Nentwig-Gesemann et al. 2021, S. 121)
Im oben angeführten Beispiel sagen die meisten Kinder, es sei ein schöner Tag gewesen, als sie selbst den Ablauf bestimmten und im Garten frühstückten. Dies könnte als »gute Qualität« aus ihrer Sicht interpretiert werden. Es gibt ein Kind, das im Interview nachdenklich sagt: »Nur das mit dem Hauen …« Ist es vielleicht im selbstregulierten Spiel zu Konflikten gekommen, die mit körperlicher Gewalt ausgetragen wurden? Offenbar hat das Kind die Situation unangenehm gefunden. Je nachdem, in welcher Position sich das Kind befand, ob es selbst gehauen wurde oder einen körperlichen Angriff auf ein anderes Kind beobachtet hat, war es vielleicht hilflos, wusste nicht, was es machen sollte?
Kindern widerfährt häufig etwas, das Hilflosigkeit oder Ohnmacht auslöst. Als besonders belastend schildern Kinder die Erfahrung, von anderen Kindern ausgeschlossen oder ausgelacht zu werden.
Schutz vor Gewalt und Diskriminierung
Eine diskriminierende Ausgrenzung liegt vor, wenn Kinder mit Verweis auf ein Merkmal ihrer Identität, das sie zumeist nicht ändern können, gehänselt, ausgeschlossen, herabgewürdigt werden. Es trifft Kinder mit Verweis auf ihre Hautfarbe, eine Behinderung, gleichgeschlechtliche Eltern, ihre nichtdeutschen Familiensprachen, die Fluchtgeschichte ihrer Familie, ihre Religion, ihr Geschlecht und weitere Merkmale. Diskriminierungserfahrungen entziehen Zugehörigkeit und Kompetenzerleben auf eine massive Weise. Sie sind eine Form psychischer Gewalt. Meistens beginnen Kinder, an sich zu zweifeln, denken, sie haben etwas falsch gemacht oder sie seien »falsch« in dem Sinne, dass sie - und ihre Familie - nicht der Norm entsprechen.
Was für manche Kinder die Kita zu einer guten Kita macht, kann für sie anders aussehen. Und gerade junge Kinder haben kaum Worte, um das zu beschreiben, was ihnen als Diskriminierung widerfährt. Sie wollen dazugehören, anerkannt und geschätzt werden wie die anderen Kinder auch. Eine gute Kita zeichnet sich für sie darin aus, dass sie zusätzlich vor Diskriminierung geschützt sind. Was könnte ihnen helfen?
Erwachsene, die ihnen verlässlich beistehen. Erwachsene, die um die Schwere solcher Erfahrungen wissen und sie nicht relativieren oder abtun. Die den Kindern zuhören und eine positive Resonanz geben. Die für Kinder »greifbar« sind mit einer klaren und transparenten Orientierung an den Kinderrechten und demokratischen Werten. Eine Auseinandersetzung mit Ausgrenzung und Diskriminierung, ein Interventions- und Schutzkonzept hilft Fachkräften, handlungsfähig zu sein.
Sich auf verabredete Regeln berufen können. Dies setzt voraus, dass die Regeln in der Kita ausdrücklich auch dem Schutz vor Ausgrenzung, Gewalt und Diskriminierung dienen. Damit wird ausgedrückt, dass es solche Situationen geben wird, sie sich aber niemand gefallen lassen muss, niemand ihnen ausgeliefert ist. Und dass alle dazu beitragen, in solchen Situationen einzugreifen. Solche Regeln sind keine fremdbestimmten Vorgaben, die Kinder befolgen sollen, einfach weil es sie gibt. Es sind Regeln für das Zusammenleben in der Kita, das Erwachsene und Kinder gemeinsam verantworten. Fachkräfte sind in besonderer Weise dafür zuständig, dass alle Kinder hier geschützt und sicher sind, und dafür brauchen sie den geschärften Blick für Verletzlichkeiten von Kindern, etwa weil sie möglicherweise Diskriminierungserfahrungen machen. Dieser Aspekt müsste zukünftig bei den Aushandlungen mit Kindern über gute Kita-Qualität stärker berücksichtigt werden.
Nach allem, was Kinder bislang über Kita-Qualität sagen, liegt hierin der Schlüssel: Eine Kita ist dann gut für sie, wenn es Freiräume und Mitbestimmung gibt und gleichzeitig Sicherheit und Schutz.
Petra Wagner
Dipl.-Pädagogin, Leiterin der Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung im Institut für den Situationsansatz an der Internationalen Akademie Berlin gGmbH (ISTA).
Literatur
- Hildebrandt, Frauke/Walter-Laager, Catherine/Flöter, Manja/Pergande, Bianka (2022): Abschlussbericht zur Studie BiKA. Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag; www.pinaresearch.de/wpcontent/uploads/ 2022/12/Bika_Abschlussbericht_digitalKopie.pdf
- Moss, Peter (2016): Why can’t we get beyond quality?, in: Contemporary Issues in Early Childhood,Volume 17, Issue 1, S. 8 - 15
- NentwigGesemann, Iris/Walther, Bastian/Bakels, Elena/Munk, Lisa-Marie (2021): Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und Forschung. Eine rekonstruktive Studie zu KiTa-Qualität aus der Perspektive von Kindern; https://doi.org/10.11586/2020078
- NentwigGesemann, Iris/Walther, Bastian/Thedinga, Minste (2017): Kita-Qualität aus Kindersicht (QuaKi);https://www.qualitaetvorort.org/wpcontent/uploads/2017/07/2017_07_27_QuaKi_Abschlussbericht.pdf
- Preissing, Christa/Heller, Elke (Hrsg.) (2009): Qualität im Situationsansatz. Qualitätskriterien und Materialien für die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen; Berlin, Düsseldorf: Cornelsen Scriptor
- Prengel, Annedore (2016): Pädagogische Beziehungen im Lichte der Kinderrechte, in: Krappmann, Lothar/Petry, Christian (Hrsg.): Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: Ein Manifest, Schwalbach: Debus
- Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz; Verlag Barbara Budrich
- Trân, Hoa Mai (2023): Demokratiebildung in Verfahren und Instrumenten der Qualitätsentwicklung und -sicherung von Kitas: Eine Dokumentenanalyse; Hrsg. Fachstelle Kinderwelten/ISTA im Rahmen des Kompetenznetzwerks »Demokratiebildung im Kindesalter«; Verlag Barbara Budrich (im Erscheinen)
- Wolter, Berit (2021): Demokratiebildung im Bereich Kita in den Bildungsprogrammen der Bundesländer. Rechercheergebnisse; unter Mitarbeit von Hannah-Louisa Schmidt; https://situationsansatz.de/publikationen/recherchezudemokratiebildungimbereichkitaindenbildungsprogrammenderbundeslaender
Anmerkung
1 Allerdings war auch bei "Qualität im Situationsansatz" zunächst nicht vorgesehen, auch Kinder dialogisch zu beteiligen. Die geschah erst ab 2016, als Katrin Macha und ihr Team die Kinderperspektiven in Evaluationsprojekten und später im Kitabeirat einbezogen.