Titelthema
Wenn Interaktionen im Kita-Alltag eskalieren
Im Kita-Alltag kommt es immer wieder vor, dass Situationen »aus dem Ruder laufen« und ein feinfühliger Umgang mit Kindern misslingt. Wo aber beginnt verletzendes Verhalten? Welche Formen und Ursachen gibt es? Und wie können Leitungskräfte und Kita-Teams verletzendes Verhalten ansprechen und verhindern? Antworten von Regina Remsperger-Kehm.
Eine Szene aus der Kita-Praxis verdeutlicht, was passiert, wenn Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern eskalieren. Welche Signale und Verhaltensweisen können beim Kind beobachtet werden? Wie interagiert die Fachkraft? Was trägt dazu bei, dass sich die Situation zuspitzt?
Fallbeispiel (Teil 1) 1
Ein Kind kommt morgens schlecht in den Alltag. Die Fachkraft ist anfangs sehr zugewandt und versucht, dem Kind den Eintritt in den Kita-Alltag leichter zu machen. Die Begleitung beim Ausziehen ist sehr wertschätzend. Da sie dadurch aber die Gruppenkollegin alleine lässt, ihr Bastelangebot liegen bleibt und die Kinder dort alleine arbeiten, wird es auf einmal sehr laut in der Gruppe. Ein weiteres Kind streitet mit einem anderen und Stühle fallen um. Bei dem Bastelangebot schneidet ein anderes Kind in die Tischdecke. Die Kollegin in der Gruppe versucht, die unterschiedlichen Situationen aufzufangen, was aber auch schwierig ist. Die Fachkraft steht auf und blafft das Kind, das schwer in den Alltag kommt, an: Es solle sich jetzt mal nicht so anstellen und sich fertig anziehen. »Ich kann nicht die ganze Zeit einen Kasper hier für dich machen.« Das Kind wirkt irritiert und fängt wieder an zu weinen. Die Fachkraft versucht, das Kind am Arm vom Boden hochzuziehen, um es mit in die Gruppe zu nehmen.
Betrachtet man die Szene, zeigt sich schnell, dass in dieser Situation ein höchst professionelles Handeln der Fachkräfte notwendig ist. Vor allem bei Übergängen sind Kinder auf die Zugänglichkeit, Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit der Erwachsenen angewiesen. Während die Fachkraft die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigt und sich ihm zunächst aufmerksam zuwendet, ist sie zugleich womöglich beunruhigt, ihre Kollegin alleine mit der Gruppe lassen zu müssen. Vermutlich steigt ihr Stressempfinden, als sie hört, dass es in der Gruppe lauter wird. Vielleicht möchte die Fachkraft der Kollegin zu Hilfe eilen und weiß zugleich, dass sie von dem Kind gebraucht wird. Es ist anzunehmen, dass sie sich dem Kind aufgrund ihrer eigenen Unruhe jedoch nicht mehr voll und ganz widmen kann.
Das Kind wiederum hat sichtlich Schwierigkeiten, in der Kita anzukommen. Es benötigt die Zuwendung der Fachkraft, um getröstet zu werden und um sich sicher zu fühlen. Zugleich ist das Kind gefordert, sich aus und wieder anzuziehen. Es lässt sich helfen und ein wenig beruhigen. In dieser vermutlich zunehmenden Sicherheit wird das Kind mit dem harschen Ton der Fachkraft konfrontiert sowie mit der Aufforderung, sich nicht so anzustellen und sich fertig anzuziehen. Das Kind wird kaum verstehen, wie der zunächst wertschätzende Umgang in die grobe Anweisung, das Gefühl des Unwohlseins zu unterbinden, münden konnte. Auch die Aussage »Ich kann nicht die ganze Zeit einen Kasper hier für dich machen« wird es nicht einordnen können. Die Irritation und das Weinen lassen darauf schließen, dass das Kind in seinem Bedürfnis nach Sicherheit erschüttert wurde. Der Versuch der Fachkraft, das Kind hoch zuziehen und mit in die Gruppe zu nehmen, verstärkt dies und kann zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins führen.
Was wissen wir über verletzendes Verhalten in Kitas?
Während über verletzendes Verhalten gegenüber Kindern in pädagogischen Einrichtungen lange Zeit nicht öffentlich gesprochen wurde, helfen mittlerweile Studien, das Interaktionsgeschehen in Kitas besser zu verstehen (Maywald 2019; Prengel 2019; Hildebrandt et al. 2021). In einer Pilotstudie wurden KitaFachkräfte dazu befragt, was sie selbst unter verletzendem Verhalten verstehen und wie sie damit umgehen (vgl. Boll/Remsperger-Kehm 2021). In ihren Augen ist verletzendes Verhalten zunächst wenig offensichtlich.
Ähnlich wie im soeben geschilderten Fallbeispiel gelingt es manchmal nicht, die Signale und Bedürfnisse von Kindern wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Zudem kann es für Kinder verletzend sein, wenn sie ironisch, sarkastisch oder ausgrenzend angesprochen werden und wenn Fachkräfte ihnen dann nicht helfen. Verletzendes Verhalten beginnt so mit in einem Graubereich, dessen Übergänge zu weiteren Formen des verletzenden Verhaltens fließend sind. Spitzen sich Situationen zu und sind Fachkräfte zum Beispiel mit dem Wutanfall eines Kindes konfrontiert, sind sie vielleicht hilflos und können das Kind nicht beruhigen: »und als das nicht klappte, wurde (es) auf dem Boden mit voller Kraft ins Büro geschleift.« (ebd., S. 54). Im gravierendsten Fall ist verletzendes Verhalten damit verbunden, Macht auszuüben, Kindern Angst zu machen und sie anzuschreien.
Aus der Perspektive der befragten Fachkräfte liegen die Ursachen für einen unangemessenen Umgang mit Kindern zum einen in strukturellen Faktoren. Stress, Überforderung, Zeitdruck, fehlende Erholungspausen, Personalmangel, aber auch das ausbleibende Handeln der Kita-Leitung und die fehlende Unterstützung des Trägers können verletzendes Verhalten begünstigen. Zum anderen sind persönliche und berufsbiografische Ursachen wie negative eigene Kindheitserlebnisse, Gewalterfahrungen, fehlendes Fachwissen, mangelnde Empathie und Reflexionsbereitschaft sowie persönliche Überzeugungen wie die Rechtfertigung von Machtausübung und Adultismus mit einem verletzenden Umgang gegenüber Kindern verbunden (vgl. ebd.).
In einer aktuellen Studie schilderten Kita-Leitungen, wie sie eingegriffen haben, wenn sich eine Fachkraft einem Kind gegenüber verletzend verhielt (vgl. Boll/Remsperger-Kehm 2024). Dabei zeigen die Berichte der Kita-Leitungen, dass Fachkräfte bereits vor der Eskalation einer Situation Signale von Kindern nicht wahrnahmen oder nicht feinfühlig reagierten. Laut der Leitungen leisten Kinder einen deutlichen Widerstand, lassen sich nur widerwillig wickeln oder möchten das Essen nicht probieren. Wenn Kinder schubsen, kneifen oder in sich gekehrt sind, erleben Fachkräfte dies als herausfordernd, wissen nicht weiter und sind überfordert. Genauso erscheinen Kinder überfordert und hilfsbedürftig und können sich zum Beispiel nicht alleine anziehen. Die Bedürfnisse von Kindern werden jedoch häufig nicht erkannt und nicht angemessen beantwortet. Ebenso empfinden Fachkräfte das Verhalten von Kindern auch als störend oder nicht als regelkonform, beispielsweise wenn Kinder laut sind oder toben. Manchmal gehen auch Streit und Wut der Eskalation einer Situation voraus. Schließlich kann die Ablehnung eines Kindes zu verletzendem Verhalten führen (vgl. ebd.).
Ähnlich wie im eingangs geschilderten Praxisbeispiel zeigt sich auch in der aktuellen Studie, dass Kinder verängstigt und traurig reagieren, wenn Fachkräfte sie maßregeln oder mit ihnen schimpfen. Andere Kinder sind unangenehm berührt, wenn sie bei vermeintlichem Fehlverhalten vorgeführt werden. Einige Kinder reagieren schockiert und eingeschüchtert auf verletzendes Verhalten. Sie wirken verunsichert, wenn Fachkräfte sie vor anderen laut zum An- oder Ausziehen, Aufessen oder zum Toilettengang auffordern. Viele Kinder zeigen laute und deutliche Reaktionen: Sie weinen, schreien oder hauen um sich. Manche Kinder flüchten aus der Interaktion. Am häufigsten verlangen Kinder jedoch nach Beruhigung und Zuwendung durch eine andere Fachkraft (vgl. ebd.).
Was braucht es, um verletzendes Verhalten gemeinsam zu verhindern?
Für pädagogische Fachkräfte in Kitas ist es nicht einfach, mit dem eigenen, aber auch mit dem verletzenden Verhalten von Kolleg*innen umzugehen. Anhand des zweiten Teils des Praxisbeispiels soll aufgezeigt werden, welche Handlungsschritte hilfreich sind, um verletzendes Verhalten zu vermeiden.
Fallbeispiel (Teil 2)
Die Kita-Leitung berichtet: »… Ich komme dazu, übernehme die Gruppe und kläre mit der Fachkraft, dass sie dabeibleiben soll, das Kind wertschätzend in die Gruppe zu bringen und sich die Zeit hierfür zu nehmen. Hier weise ich sie auch darauf hin, dass wir die Kinder nicht an den Armen oder Ähnlichem ziehen. In einem späteren Gespräch klärten wir die Situation nochmal auf.«
Berücksichtigt man die hohen Anforderungen, mit der die Situation für alle Beteiligten verbunden ist, wird deutlich, dass vieles bereits gut gelingt. Während beide Fachkräfte die Bedürfnisse der Kinder zunächst angemessen berücksichtigen, zielt auch das Handeln der Kita-Leitung darauf, wieder eine Situation zu schaffen, in der sich die Fachkraft den Bedürfnissen des Kindes widmen kann und sich die Atmosphäre in der Gruppe entspannt. Zugleich hat die Leitung ein gutes Gespür für die Empfindungen der Fachkräfte. Sie erkennt, wie angespannt die Fachkraft ist und dass auch die Kollegin in der Gruppe Unterstützung braucht. Die Leitung interveniert sofort und trägt da mit dazu bei, die Situation zu deeskalieren und das Kind zu schützen. Die Leitung scheint unaufgeregt mitzuteilen, was die Fachkraft tun kann, um die Interaktion selbst wieder in eine gute Richtung zu lenken. Durch ihr ganz konkretes Tun ermöglicht es die Leitung, dass beide Fachkräfte die dafür notwendige Unterstützung erhalten. Zugleich übernimmt sie Verantwortung und benennt sehr klar, welches Ver halten in der Kita nicht geduldet wird. Schließlich sorgt die Leitung dafür, dass das verletzende Verhalten in einem späteren Gespräch aufgearbeitet werden kann.
Wie bedeutsam die Rolle der Leitung bei der Prävention verletzenden Verhaltens ist, zeigte sich auch im Rahmen der Pilotstudie (vgl. Boll/Remsperger-Kehm 2021; 2022). Die Befragten setzten sich hier sehr für eine Kultur der gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung ein, die von Wertschätzung, Achtsamkeit, einer positiven Fehlerkultur und dem Mut geprägt sein soll, untereinander um Hilfe zu bitten. Mit der Unterstützung der Leitung soll ein fehlerfreundliches Klima in den Einrichtungen geschaffen werden, in dem sich die Fachkräfte nicht beschämen, eigene Überforderungen ansprechen, sich schritt weise öffnen, mehr mitteilen und im Team ein Gefühl der Sicherheit erlangen, um so das eigene Verhalten zu reflektieren.
Neben dem verantwortungsvollen Handeln der Leitung braucht es laut der Fachkräfte unbedingt Entlastung im Arbeitsalltag wie etwa ausreichend Personal und kleinere Gruppen. Darüber hinaus fordern die Fachkräfte die Umsetzung der Kinderrechte, die Einrichtung von Beschwerdestellen sowie Präventionsmaßnahmen für Kinder, um diese in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken. Nicht zuletzt seien Fortbildungen notwendig, um sich über Erziehungswerte auszutauschen, für verletzendes Verhalten zu sensibilisieren und besser mit Verhaltensweisen von Kindern umgehen zu können, die als herausfordernd erlebt werden (vgl. ebd.).
Um die Eskalation von Alltagsinteraktionen zu vermeiden, müssen pädagogische Fachkräfte zukünftig noch mehr darin gestärkt werden, die Bedürfnisse von Kindern besser wahrzunehmen und mit einer hohen sensitiven Responsivität zu interagieren (vgl. Remsperger-Kehm 2020). Insbesondere Verhaltensweisen von Kindern, die Erwachsene als anstrengend empfinden, können darauf hindeuten, dass die seelischen Grundbedürfnisse von Kindern nicht ausreichend erfüllt oder gar verletzt worden sind (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al. 2020). Wir müssen uns also gerade in schwierigen Momenten fragen, ob Kinder Zuwendung, Aufmerksamkeit, Beruhigung oder die Rückversicherung der Bezugsperson benötigen, um sich Dingen (wieder) zuwenden zu können. Es gilt zu verstehen, dass das Ringen eines Kindes um Aufmerksamkeit »ein Notsignal, nicht ein Zeichen von Unreife oder ›Machtspielen‹« ist (ebd., S. 44). Und es braucht ein Bewusstsein dafür, dass wir Kinder bei der Bewältigung schwieriger Situationen maßgeblich unterstützen, indem wir ihnen Halt und Sicherheit geben. Dieses zu verinnerlichen, ist ein wichtiger Schritt, um verletzendes Verhalten zu verhindern.
Prof. Dr. Regina Remsperger-Kehm
Sozialpädagogin, Erziehungswissenschaftlerin, Professorin für Frühkindliche Bildung an der Hochschule Fulda. Forschungsschwerpunkte: Fachkraft-Kind-Interaktionen, Kinderrechte, Kinderschutz, Gesundheitsförderung, Qualitätsentwicklung in der frühen Bildung.
Anmerkung
1 Das Fallbeispiel stammt aus dem Datenmaterial einer Studie, in der 644 Berichte von Kita-Leitungen hinsichtlich der Signale und Reaktionen von Kindern auf verletzendes Verhalten analysiert wurden (Boll/Remsperger-Kehm 2024).