Titelthema
Die echte Welt in der Kita
Die Kita Heide-Süd in Halle wurde 2023 mit dem Deutschen Kita-Preis ausgezeichnet. Eine der Besonderheiten der Einrichtung: In dem multiprofessionellen Team bringen Menschen ihre handwerkliche Expertise ein. Ola Aleksandra Bielesza hat den bemerkenswerten Bildungsort besucht.
Ich sitze auf einem ausladenden Sofa, in der Hand eine dampfende Tasse mit frisch aufgebrühtem Kaffee. In einer Vitrine stehen Porzellantassen, die gut zu der gemusterten Tapete passen. Meine Kollegin flüstert mir zu, dass es hier aussieht wie bei ihrer Oma. Eigentlich haben wir keine Zeit zum Kaffeetrinken, denke ich. Die zwei Tage sind durchgetaktet. Die Kita-Leitung hat uns eben hierhergebracht und muss noch etwas erledigen, bevor sie uns die Kita zeigt: »Das ist unsere Küche - kommt erstmal an.«
Als eine der zwei Expertinnen des Teams um den Deutschen Kita-Preis besuche ich für zwei Tage die Kita Heide-Süd des Eigenbetriebs der Stadt Halle. Na gut, denke ich. Dann erstmal einen Kaffee und die Stimmung auf uns wirken lassen. Am rustikalen Eichentisch sitzen zwei Kinder und sprechen angeregt miteinander. Ein Pädagoge kommt rein. Auch er gießt sich einen Kaffee ein. Die Kinder am Küchentisch plaudern mit ihm und verabreden sich zum Bau eines Tipis aus Weiden.
Einige Monate später wird diese Kita den Deutschen Kita-Preis 2023 gewinnen. Die Fachjury wird unsere Begeisterung über die kinderrechtsbasierte Pädagogik teilen. Sie wird diesem besonderen Bildungsort, der sich wie kaum ein anderer Ort durch Ko-Konstruktion auszeichnet, den ersten Platz verleihen - einem Ort also, wo Kinder Erwachsene erleben, die selbst mit Begeisterung lernen und so die perfekten Lernbegleiter*innen für Kinder sind.
»Hier ist mein Know-how gefragt«: Ein multiprofessionelles Team entfaltet seine Potenziale
Die Kita Heide-Süd ist einer der sprühendsten, lebendigsten, anregendsten Bildungsorte für Kinder, die ich kenne. Kinder reparieren, kreieren, gestalten, bauen und werden bei Bedarf von Erwachsenen dabei unterstützt. Was sind Gelingensfaktoren für solch eine Lebenswelt von Kindern? Silke Hajeck, die Kita-Leitung, erzählt, dass ursprünglich andere Funktionsräume geplant waren. »Aber dann kamen die Pädagog*innen mit ihren Leidenschaften und ihren vorherigen (Berufs-)Erfahrungen, und so änderten sich die Pläne.«
»Wo finde ich hier meinen Platz?«, beschreibt Matthias Grabe, der Pädagoge, der den Naturgarten betreut, die Frage, die er sich stellte, als er neu ins Team kam. Er hat ein Diplom in Geologie. Heute baut er mit Kindern Zäune, sie legen gemeinsam Beete an und ernten Gemüse. Spätestens wenn sein Dienst beginnt, können alle Kinder jederzeit raus. Sie gärtnern und werkeln mit ihm, fahren Laufrad oder spielen im Sandkasten.
Hannes Rasche war im Erstberuf Kfz-Mechaniker, bevor er die Ausbildung zum Erzieher gemacht hat. Mit ihm kam auch sein altes Motorrad in die Kita, das die Kinder mit seiner Unterstützung in monatelanger Arbeit auseinandergeschraubt und im ersten Stock wieder zusammengeschraubt haben. Aktuell betreut er die Fahrradwerkstatt der Kinder.
»Ich war ein Opa-Kind und habe meine Kindheit in der Holzwerkstatt meines Opas verbracht«, erzählt Mario Schlegel. »Das wollte ich für die Kinder hier auch. Kinder kommen manchmal mit einem Plan, weil sie etwas bauen wollen für ihre Spielidee. Aber sie verbringen auch einfach gerne Zeit hier und probieren sich aus. Und manche Kinder genießen einfach die Atmosphäre in der Holzwerkstatt. Sie beobachten, wie andere Kinder etwas bauen, und plaudern mit mir.«
Hinter der Idee, dass jedes Kind in der Kita Heide-Süd sich seinen Tag gestalten kann, indem es genau das tut, was ihm Spaß macht, was interessant und spannend ist, steht also auch die Haltung, dass auch Erwachsene sich darüber klarwerden, wie sie sich am besten in die Gemeinschaft einbringen können und wo sie ihre Kompetenzen sehen. Die Lernwerkstätten leben so auch von der Begeisterung der Erwachsenen.
»Letztens war ein ehemaliges Kind zu Besuch. Er will auch Erzieher werden, hat er gesagt. Weil wir den ganzen Tag machen können, was uns Spaß macht«, erzählen die Pädagog*innen lachend. Ich kann gut verstehen, wie das Kind zu dieser Schlussfolgerung kommt. Auch auf mich wirken die Pädagog*innen glücklich, resilient und stolz auf ihre sinnstiftende Arbeit.
Vielleicht ist es genau diese Kohärenz des pädagogischen Konzepts? Die flexible Tagesstruktur, die Erfahrungsräume, das pädagogische Handeln und die Einbeziehung der Familien - alles passt sinnvoll zusammen. Konsequenterweise sind also neben den Kindern und Pädagog*innen auch die Familien herzlich eingeladen, sich mit ihren Kompetenzen, Erfahrungen und Interessen einzubringen. Das Team hat sogenannte »Gelbe Seiten« ins Leben gerufen, in denen diese Ressourcen gelistet sind. Im Dezember wurden Eltern zu »lebendigen Adventskalender-Türchen«, um Kinder erleben zu lassen, was sie von Beruf machen oder welchen Hobbys sie nachgehen. »Wir kooperieren auch mit vielen Menschen in Halle und Umgebung. Die Kinder sind beispielsweise fasziniert vom Schmied. Zu ihm radeln wir regelmäßig, um etwas an den Rädern schweißen zu lassen.«
Ko-Konstruktion - gemeinsam mit Erwachsenen lernen und echte Sachen machen
Selten war ich an einem Ort, an dem Kinder so konzentriert und motiviert an Dingen arbeiten. Ein Kind näht auf der Nähmaschine, ein anderes, sehr junges Kind lässt über einen langen Zeitraum Wasser in ein Gefäß laufen und schüttet es wieder aus. Mehrere Kinder malen versunken im Mal-Ort, bei der Pädagogin Lisa Klimczak. Ein Kind hat ein Nagelstudio eröffnet und lackiert geduldig einem anderen Kind die Nägel. Einige Kinder beschäftigen sich mit Buchstaben, ein weiteres Kind schreinert sich gerade ein Schwert. Es schleift ausdauernd das Holz mit Schleifpapier ab. Liegt dieses konzentrierte Tun an den besonderen halleschen Kindern? Wahrscheinlich nicht. Dadurch, dass Kinder in der Kita Heide-Süd immer wieder erleben, dass Erwachsene begeisterte Lernende sein können und dass Menschen unterschiedlichste Stärken, Interessen und Wissen haben, trauen sie sich auch vermehrt Herausforderungen anzunehmen und sich selbst in Sachverhalte einzufuchsen. Als einige Kinder vor ein paar Jahren auf die Idee kamen, eine Schildkröte in der Kita zu halten, haben sie sich erst einmal umfassend darüber informiert, wie sie eine artgerechte Haltung gewährleisten können. Sie haben unter anderem Biolog*innen und Zootierpfleger*innen befragt. Gemeinsam haben sie ein Gehege für die Schildkröte gebaut.
Wenn Kinder begeistert ihre Babypuppen wickeln, gehen sie in die Holzwerkstatt mit dem Ziel, dort einen Wickeltisch zu tischlern. »Diese besondere Lernatmosphäre, das Erleben, dass wir Dinge, die wir noch nicht können, lernen, dass wir Sachen, die wir brauchen, selbst herstellen und Gegenstände, die kaputt sind, reparieren können, führt dazu, dass Kinder diese Kompetenzen stärken und weiterentwickeln können«, sagt Silke Hajeck. Die Kinder finden in der Kita Heide-Süd Erwachsene vor, die ihnen Dinge zutrauen und sie in der Umsetzung unterstützen. Die Tagesstrukturen ordnen sich diesem Flow unter: »Dann essen die Kinder eben später.« Es gibt sich erschließende Tagesstrukturen und Regelungen, diese sind aber um die Bedürfnisse der Kinder gestrickt und flexibel veränderbar.
Die Pädagog*innen sind präsent und ansprechbar für die Kinder, aber sie bieten keine vorgefertigten Angebote an, die um eine bestimmte Uhrzeit beginnen und enden und zu denen sie Kinder einladen. Sie sind einfach da, interessiert und aufmerksam für die Ideen der Kinder. Manchmal gehen sie eigenen Projekten nach und die Kinder können sich anschließen.
»Einen Hausmeister brauchen wir nicht«, sagt Mario Schlegel. »Wenn mal ein Bilderrahmen kaputtgeht, kommen die Kinder damit in die Holzwerkstatt und wir reparieren das gemeinsam.« »Oder die Kinder kommen morgens zu mir und sagen, dass das Fahrrad des Vaters kaputt ist und sie es mit mir gemeinsam reparieren wollen«, ergänzt Hannes Rasche.
»Ich liebe kochen und backen und ›die Küche‹ sollte kein Raum sein, der nur zum Essen genutzt wird«, erzählt die Pädagogin Sabine Franke. »Dabei kommt es aber nicht immer auf das Ergebnis oder das Produkt an. So einen Kuchen zu backen, hat ja auch mit der Lust am Zusammenschütten der Zutaten zu tun«, betont ihre Kollegin Anett Stanke-Otto.
Da stimmen ihr die anderen Pädagog*innen zu. Es ist auf der einen Seite die Ernsthaftigkeit der Arbeit, die Kinder begeistert. Auf der anderen Seite ist es auch die Wertschätzung des Spiels, des Experimentierens und der Lust am Prozess. Beides steht gleichwertig nebeneinander.
Ola Aleksandra Bielesza
ist Mitbegründerin von »InPerspektiven«, einem Zusammenschluss von Pädagog*innen, die sich mit interperspektivischer Qualitätsentwicklung in Kitas beschäftigen. Sie ist als Expertin beim Deutschen Kita-Preis tätig und bietet Fortbildungen rund ums Thema Kinderperspektiven an.