Titelthema
»Ich interessiere mich für das, was du zu tun vermagst«
Im Gespräch mit Thomas Thiel erklärt der Fachberater und Autor Klaus Kokemoor, wie er Kita-Teams, Fachkräfte und Eltern dabei begleitet, Kinder mit als herausfordernd erlebtem Verhalten anders wahrzunehmen, und wie die Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingen kann.
Wo sehen Sie die besonderen Herausforderungen und welche Kinder verbergen sich hinter dem Etikett »herausfordernd«?
Ich berate jeden Tag Teams in Kindertageseinrichtungen zu diesem Thema und nach meiner Beobachtung hat sich das Spektrum von Kindern, die ein herausforderndes Verhalten zeigen, erweitert und ist heute sehr breit gefächert. Es reicht von Kindern, die in der Eingewöhnung Probleme haben, über Kinder mit der Diagnose Autismus bis hin zu Kindern mit einer neuen Form von sozial-emotionalen Auffälligkeiten. In dem, was diese Kinder nach meinem Eindruck in der Regel brauchen, gibt es kaum einen Unterschied zwischen sozial-emotional auffälligen Kindern und beispielsweise autistischen Kindern. Denn wichtig ist, was zwischen den Menschen geschieht - und alle Kinder sind auf unsere Zuwendung und Momente ungeteilter Aufmerksamkeit angewiesen.
Heute werden mir immer häufiger Kinder vor Augen geführt, die aufgrund von hohem Medienkonsum nicht mehr wirklich in ein Spiel kommen. Das hat in der Corona-Zeit sehr zugenommen, da der Konsum digitaler Medien in dieser Zeit nochmal eine neue Dimension entwickelt hat und Kinder Abwesenheit in Anwesenheit erleben. In diesem Kontext werde ich in letzter Zeit häufig gerufen, weil da Jungs sind, die ein herausforderndes Verhalten zeigen, das auf einen zu hohen Konsum von Medien zurückzuführen ist. Damit will ich aber keineswegs sagen, dass bei Mädchen keine besonderen Verhaltensweisen zu beobachten sind. Sie fallen in der Regel zunächst weniger auf.
Wie sieht es konkret aus, wenn Sie pädagogische Teams beraten?
Wenn sich Einrichtungen an mich wenden, weil Kinder ein herausforderndes Verhalten zeigen, dann ist es oft so, dass die Kinder in 90 Prozent der Fälle das vorher beschriebene Verhalten in der Beratungssituation gar nicht zeigen. Die Fachkräfte sind dann erst mal enttäuscht, weil sie das von ihnen angekündigte Verhalten nicht präsentieren konnten. Ich frage sie dann: »Was ist denn die gute Nachricht dabei?« - Grundsätzlich zeigt das Kind ein Verhalten, das positiv ist. Ich frage dann weiter: »Was habt ihr denn in den letzten zwei Stunden in meinem Beisein anders gemacht als vorher?« - Sie haben genauer beobachtet, sie haben sich mehr Zeit genommen für das Kind und sie erkennen: Das Kind schlägt nicht im Fünf-Minuten-Takt, sondern hat zwei Stunden wunderbar gespielt! Wenn ich dann frage: »Wann hat es denn zum letzten Mal geschlagen?«, lautet die Antwort »Oh, vor etwa zehn Tagen.« Es hat also gar nicht ständig stattgefunden, aber wir entwickeln in solchen Fällen oft ein inneres Bild vom Kind, das diesem Kind aber nicht gerecht wird. Die Erkenntnis daraus lautet: Es ist ein anderer, konstruktiver Blick, weg vom negativen Image, erforderlich. Es ist bemerkens- und anerkennenswert, dass das Kind über einen langen Zeitraum ein durchaus positives Verhalten zeigt. Diese konstruktive Sicht, weg von der vermeintlichen Destruktion des Kindes, ist notwendig, um dem Kind in seiner ganzen Persönlichkeit gerecht zu werden.
Es ist ja oft auch so, dass die Fachkräfte in diesem Zusammenhang auch ein kritisches Bild den Eltern gegenüber entwickeln. Sie beobachten zum Beispiel, dass die Eltern auch mal Probleme mit ihrem Kind in der Garderobe haben, und so entsteht dann der Eindruck, dass sie keine Grenzen setzen können. Auf der anderen Seite haben aber auch die Eltern schnell einen kritischen Blick auf die Fachkräfte: »Wenn ich komme, haben die Fachkräfte keine Zeit für mein Kind, sind immer woanders.« Diese beiden Pole sorgen dafür, dass das Kind ein Symptomträger werden kann für die wenig gute Beziehung zwischen Fachkräften und Eltern. Deswegen führe ich immer alle Gespräche mit den Fachkräften und den Eltern zusammen und immer auf dem Hintergrund von Bildern oder Videos.
Ich hatte gerade ein Gespräch, wo es um einen Jungen ging, der nicht mit anderen spielt. Ich habe die Fachkraft gebeten, sich zu dem Jungen auf den Boden zu setzen und zu benennen, was der Junge tut. Er hat mit einer Holzeisenbahn gespielt, die Fachkraft hat es auch deutlich so benannt. Allein dadurch, dass sie sich dazugesetzt hat, kamen andere Kinder dazu und wollten mitspielen. Diese Szene haben wir den Eltern gezeigt, um hervorzuheben, was der Junge braucht. Es wurde klar, dass es diese Momente zu Hause nicht gibt, weil beide Eltern beschäftigt sind, es gibt keine Zeit für gemeinsames Spielen in den eigenen vier Wänden und damit auch wenig Aufmerksamkeit für den Jungen. Es war genauso zu beobachten, dass das Kind sich sofort verändert, wenn es merkt, dass der Aufmerksamkeitsfokus jetzt nur bei ihm liegt. Wie schon gesagt, Kinder erleben heute bedauerlicherweise eine neue Dimension im Zusammenleben: Abwesenheit in Anwesenheit, durch die permanente Präsenz von Handys wird ihnen in der heutigen Zeit noch mehr Aufmerksamkeit entzogen.
Sie schildern, dass Fachkräfte am Boden sitzen und Kinder beobachten oder mit Kindern kommunizieren. Viele würden sagen: »Dazu fehlt mir gefühlt die Zeit!«
Gut, dass Sie das Wort »gefühlt« benutzen! Ich war gerade in einer Kita, wo ich den Auftrag hatte, nur die Fachkräfte zu beobachten. Sie wussten, dass ich komme, und sie kennen meine Grundhaltung. Da waren etwa 25 Kinder und zwei Fachkräfte im Außengelände. Sie haben sich immer irgendwelchen Kindern zugeordnet, in der Sandkiste, auf der Schaukel. Das haben andere Kinder beobachtet und sind dazugekommen, weil sie wussten: Wir erhalten Aufmerksamkeit. Die Fachkräfte haben wohlwollend beobachtet und nicht reglementierend eingegriffen. Es fielen keine Worte wie: »Vorsicht, nicht so schnell laufen!« oder »Der Sand bleibt im Sandkasten!«. Sie haben sich für die Handlungen der Kinder interessiert und diese benannt: »Ah, ihr rutscht!« - »Du schaukelst aber wirklich hoch!« In dieser Situation habe ich viele kleine Filme gedreht, die wir gemeinsam bei einer Dienstbesprechung unter diesem Aspekt auswerten werden. Wir stellen uns hierbei die Frage: »Welche Bedeutung liegt meinem Handeln für das einzelne Kind, aber auch für die Gruppe zugrunde?« Aus dieser Reflexion wird ein Handlungskonstrukt! Wir führen uns wichtige Realitäten aus dem pädagogischen Alltag vor Augen: »Wenn ich mich zu einem Kind setze, verankere ich mich - zeige Präsenz!« Das ist ein Gegenentwurf zu dem, was in unserer Gesellschaft viel zu häufig passiert: Wir sind alle viel zu sehr in Bewegung, statt bei jemandem aufmerksam zu verharren - auch wenn es nur für kurze Zeit ist.
In einer anderen Situation habe ich beobachtet, wie eine Fachkraft mit einem Kind in der Garderobe war und es an der Kita-Tür klingelte. Die Fachkraft musste dorthin zum Öffnen, hat aber vorher noch das Kind am Rücken berührt und gesagt: »Ich komme gleich wieder zu dir!« Das ist ein ganz anderes Verhalten, als wenn sie einfach rausgegangen wäre. Hier liegen Qualitätsunterschiede, die ich anhand der Videoanalyse Schritt für Schritt und Stück für Stück mit dem Team herausarbeiten kann. Die Marte-Meo-Videointeraktionsanalyse ist hier wie eine Entschleunigung des Alltags. Wir können uns so wertvolle Mosaiksteine der Pädagogik vor Augen führen.
Nun waren diese Fachkräfte vorbereitet. Was sagen Sie Fachkräften oder Teams, was sie tun können, wenn Kinder als orientierungslos oder herausfordernd beschrieben werden?
Ein Kernpunkt für mich bei der Arbeit in Kitas ist die handlungsbegleitende Sprache - sich mit Worten auf das zu beziehen, was die Kinder tun, und ihnen damit das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu geben. Dieses Gefühl hilft ihnen bei der Selbstregulation. Es stärkt auch ihr Bewusstsein für das, was sie tun. Wenn ich in eine Kita komme, ohne dass vorher angekündigt wurde, dass die Fachkräfte die handlungsbegleitende Sprache nutzen sollen, dann erlebe ich, dass sie viel mit Kindern sprechen über das, was die Kinder tun sollen, und das, was sie nicht tun sollen, und nur fünf Prozent über das, was die Kinder gerade wirklich tun. Daran arbeite ich mit den Fachkräften, um das gemeinsam zu reflektieren und zu verändern. Das gelingt sehr gut mit Videosequenzen und der Frage: »Was macht eure pädagogische Qualität aus?« Ich hatte zum Beispiel die Situation, dass ein Junge mit einer Holzeisenbahn gespielt und gleichzeitig einen Turm gebaut hat. Die Fachkraft wollte, dass er sich auf eine Sache beschränkt - Bahn oder Turm. Aber wissen wir denn, ob er nicht gerade an einem Bahnhof mit seinem Vater war, dort Züge und ein hohes Gebäude wahrgenommen hat und beides zu seinem inneren Bild von Bahnhof gehört? Es ist nicht klug, konzeptionelle Systeme einzubauen wie etwa: »Erstmal das eine wegräumen, bevor du mit etwas anderem anfängst.« Wir müssen uns die Offenheit bewahren und den Kindern Raum geben, ihr inneres Bewegtsein auszudrücken.
Darum bin ich auch ein absoluter Befürworter der offenen Arbeit, weil die einzelnen Räume die Voraussetzung dafür sind, Einladungen für das einzelne Kind auszusprechen, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Die Fachkräfte haben da auch eher die Gelegenheit, auf einzelne Kinder einzugehen, und die intrinsische Motivation der Kinder steigt, weil nicht so viel vorgegeben ist. Findet dagegen alles in einem Raum statt, in dem der Platz meistens nicht ausreicht, um die unterschiedlichen Themen der Kinder mit unterschiedlichen Materialien auszudrücken, sind Konflikte vorprogrammiert.
Sie haben vorhin von Ihrer Grundhaltung gesprochen, die Ihrer Arbeit zugrunde liegt. Können Sie diese präzisieren?
»Ich interessiere mich für das, was du zu tun vermagst.« Mit dieser Haltung begegne ich dem Kind, den Fachkräften, aber auch den Eltern. Ich frage: »Was ist konstruktiv, was ist positiv bei dem, was du gerade tust?« Ich will also mein Hauptaugenmerk auf die positiven Aspekte des Handelns legen. Wir können davon ausgehen, dass bei allen Menschen - es gibt nur wenige Ausnahmen auf unserem Planeten - die positiven Impulse überwiegen. Wir neigen aber dazu, gerade wenn wir Stress haben oder ein Ohnmachtsgefühl, auf die Dinge zu schauen, die nicht funktionieren.
Ich höre heraus, dass Sie nicht das im Blick bei den Kindern haben, was herausfordernd im negativen Sinne ist. Was raten Sie den Fachkräften, wenn sie so etwas erleben?
Ich rate immer: »Nehmt euch Zeit, stellt euch an den Rand des Raums und beobachtet einfach mal, was passiert im Raum und was das Kind macht, das euch herausfordert. Nicht mit einer Habacht-Haltung, sondern mit großer Offenheit.« Das vermeintlich herausfordernde Kind braucht Aufmerksamkeit und Worte, ein Feedback auf das, was es tut: »Ah ja, du rennst! Du malst!« Dann bekomme ich ein anderes Gefühl zu dem Kind und das Kind zu mir als Fachkraft. Das Kind merkt: Du setzt dich auch jenseits meines unerwünschten Verhaltens zu mir in Beziehung. Es erfährt Wertschätzung, ein wichtiger Aspekt für eine Verhaltensänderung. Aus dem Gefühl der Anerkennung wächst die Bereitschaft zur Kooperation.
Gibt es etwas, was Fachkräften helfen würde, ein konzeptioneller Rahmen?
In einem meiner Bücher habe ich das Drei-Raum-Prinzip entwickelt. Es gibt einen Organisationsraum, einen Begleitungsraum, der sich an handlungsbegleitender Sprache orientiert, und es gibt einen Regenerationsraum, der die Pause der Fachkräfte repräsentiert. Oft spielt sich vieles in der Kita im Organisationsraum ab.
Damit es anschaulicher wird, gebe ich Ihnen ein Beispiel aus dem pädagogischen Alltag: Es findet ein Morgenkreis in der Krippe statt, dort sind 15 Kinder und drei Fachkräfte und es wird ein Geburtstag gefeiert. Eltern haben Muffins mitgebracht und somit wird im Morgenkreis auch gekrümelt. In dem Moment, als der Morgenkreis zu Ende ist, stehen alle Kinder auf, eine Fachkraft stellt die Stühle zurück an die Tische, die zweite Fachkraft fegt die Krümel weg, die dritte holt den Teewagen. Alle drei sind im Organisationsraum. Aus einem solchen Organisationsraum oder Organisationsmoment entstehen schnell Worte, die die Impulse der Kinder kontrollieren: »Halt, stopp! Warte noch! Gleich!« Das erzeugt Widerstände und da machen sich die Fachkräfte das Leben sehr schwer. Ich weise sie darauf hin, dass nur eine Fachkraft für die notwendige Organisation zuständig zu sein braucht und die anderen beiden für die Entwicklungsbegleitung der Kinder. In der Entwicklungsbegleitung liegt der Schwerpunkt unseres pädagogischen Handelns, in der Beobachtung des kindlichen Spiels und seiner Initiativen sowie in der handlungs-begleitenden Sprache.
Bei meinen Veranstaltungen wird mir immer wieder bestätigt, dass das nur selten der Fall ist, dass alle meistens im Organisatorischen verhaftet sind. Das gilt es zu ändern! Wir müssen uns stärker mit der besonderen Qualität des kindlichen Spiels verbinden, denn das Kind bringt durch die Art und Weise, wie es spielt, malt, handelt oder sich bewegt, seine persönliche Geschichte, sein inneres Bewegtsein zum Ausdruck!
Klaus Kokemoor
ist Diplom-Sozialpädagoge, Supervisor, Therapeut (Entwicklungsbegleitung Doering, Psychomotorische Praxis Aucouturier sowie Marte-Meo-Video-Interaktionsanalyse) und Koordinator für das Thema Inklusion der Stadt Hannover. Seit 1982 beschäftigt er sich in Praxis und Theorie mit Menschen mit Autismus. Er ist Autor der Bücher »Autismus neu verstehen«, »Das Kind, das aus dem Rahmen fällt«, »Von der Ohnmacht zur Handlungskompetenz«, »Entwicklungsbegleitung autistischer Kinder« sowie »Blackbox Medienkonsum«.